Der Westen

Quellen:
Text:  Kapitel 8Reisebericht "Aus Sizilien" von , erschienen
Überschriften, Bilder und Kommentare:  Britta Bohn
Veröffentlicht am:  24. März 2012
Letzte Änderung:  13. Mai 2020

 

Von Palermo nach Trapani


Um von Palermo nach dem Erice zu kommen, kann man das nach Tunis gehende Dampfschiff benutzen und in Trapani ans Land steigen. Man kommt dann früh morgens an und hat den ganzen Tag für die Wanderung nach dem Erice zur Verfügung. Leider muß man aber in diesem Falle auf den Anblick der sehr schönen Nordküste verzichten, da das Schiff die Fahrt nachts zu machen pflegt. Man wählt daher besser ein anderes Dampfschiff, das am Vormittag von Palermo nach Syrakus fährt und in allen Küstenorten anlegt.

Bei schönem Wetter und ruhiger See, auf die man jedoch keineswegs immer rechnen darf, ist die Fahrt sehr genußreich. Noch einmal entfaltet sich das großartige Panorama der Bucht von Palermo, die still und ernst daliegt; bald aber verschwindet das unvergleichliche Bild hinter den gewaltigen, sich zur Linken erhebenden Massen des Monte Pellegrino. Das Schiff fährt dann weiter vorbei an den beiden Vorgebirgen Capo Gallo und Capo Vito, zwischen denen sich der tief einschneidende Meerbusen von Castellamare mit den gartenähnlichen Gefilden von Partenico ausbreitet, und wendet sich nach etwa sechsstündiger Fahrt dem Hafen von Trapani zu, über dem die Pyramide des Erice hoch anfragt.

 

Trapani


Mit Virgils unvergänglichem Heldengedichte ist Drepanum (Trapani) aufs engste verbunden. Hier hat sich der Trojaner Acestes niedergelassen, nnd zweimal landet hier Äneas. Das erstemal stirbt ihm sein alter Vater an dieser Küste, und als Äneas im nächsten Jahre wieder in den Hafen einlaufen muß, veranstaltet er ihm zu Ehren festliche Spiele zu Lande und zu Wasser. Man sieht die kleine Insel, die das Ziel der flinken Ruderschiffe war:

"Dem schäumenden Strand entgegen im Meere fern, da streckt
Sich hin ein mächtiger Felsen, von schwellender Flut bedeckt,
Wenn winterlicher Nordsturm verhüllt der Sterne Chor;
Doch ruhen Luft und Wellen, tritt er als Riff hervor."

Der Dichter hat das Felseneiland Asinello im Sinne, das bei unruhiger See meistens von den Fluten überspült wird, so niedrig ist es. Um so höher erheben sich die egidischen Inseln, drei schwimmenden Bergen gleich. Am entferntesten liegt Marettimo, das zugleich die höchste der Inseln ist; näher dem Hafen zu sieht man Favignana und Levanzo, und bei diesen scheint die Seeschlacht stattgefunden zu haben, die den ersten punischen Krieg beendigte.

Ob das Meer von jeher zwischen den ragenden Felseninseln flutete, oder ob diese, wie manche meinen, die Überbleibsel der Westecke von Sizilien sind, die in Urzeiten vom Meere zertrümmert ward, dürfte schwer auszumachen sein. Sicher ist, daß an dieser Küste allerlei Veränderungen vorgegangen sind, ja, bis auf den heutigen Tag ist sie noch nicht zur Ruhe gekommen. Denn die ganze Westküste der Insel hebt sich allmählich, und während im 3. Jahrhundert v. Chr. im Hafen von Trapani große Kriegsflotten manövrieren konnten, hat er gegenwärtig kaum ein paar Fuß Wasser.

 

Erice


Gebildet wird er durch eine sichelförmige Landzunge, auf der auch die Stadt liegt. Nicht ihre geringen Sehenswürdigkeiten find es, die den Reisenden hierher ziehen, sondern allein das nahe Erice. Die Alten haben ihn in Bezug auf seine Höhe mit dem Ätna verglichen. Das trifft nun freilich nicht zu, denn er ist nur 750 m hoch, aber wie der Ätna löst er sich von dem übrigen Gebirge ganz los und bezeichnet das Ende jener großartigen Bergkette, durch welche die Nordküste Siziliens von dem Inlande geschieden wird.

Den Phöniziern und den Karthagern war er ein heiliger Berg, die Kultusstätte ihrer Göttin Astarte, der Mutter aller Dinge, der Herrin des Meeres, die sich in dem halb griechischen Lande allmählich zur Aphrodite umwandelte. Noch heute umschwärmen die ihr geheiligten Tauben in Scharen den Gipfel des Erice.

Auch von den Römern wurde das Heiligtum früh anerkannt, zumal da sie mit den Wanderungen der aus dem Osten gekommenen Göttin die ihres Nationalhelden Äneas verknüpften. Denn der Erice liegt etwa auf halber Fahrt zwischen Karthago und Italien, und über die alten Seeplätze der latinischen Küste, über Antium, Ardea und Lavinium, wird die Äneasfage in Rom eingewandert sein.

In endlosen Windungen führte der Weg den Berg hinauf; endlich zeigte sich oben graues Gemäuer, als wäre das ganze eine Ruinenstadt. Und in der That ist San Giuliano – das ist der moderne Name des alten Erice – wohl dazu bestimmt, nach und nach auszusterben: der Ort wird alljährlich kleiner, weil die Einwohner nach der Ebene auswandern. Was sollen sie auch in dem öden Felsenneste? Die Stille in der Stadt ist schon jetzt fast beängstigend. Die wenigen Menschen, denen man begegnet, schleichen in dunklen Kapuzenmänteln umher, denn da oben ists vielfach kalt und nebelig.

Von einigen Jungen begleitet, stieg ich zur mittelalterlichen Burg hinauf, aber dichte Nebelwolken lagerten um den Berg, und von der gepriesenen Aussicht über Küsten, Inseln und Meer sah ich so gut wie nichts. Auch nach dem Tempel der Venus sucht man vergebens. Uralte Unterbauten und sonstiges Gemäuer bezeichnen die heilige Stätte, und in einer Ecke hat man sogar ein Gefängnis angelegt.

Ich ging dann nach Trapani zurück und fuhr am Nachmittage weiter nach Castelvetrano. Bei der Ausfahrt sieht man zur Rechten überall die ausgedehnten Meersalinen, wo auf die einfachste Art von der Welt Seesalz gewonnen wird. Man legt flache Gruben an, die durch niedrige Dämme von einander getrennt sind, führt das Meerwasser durch eine Schleuse hinein und überläßt der Sonne das Geschäft des Abdampfens und Bleichens, worauf man nichts anderes zu thun hat, als das fertige Produkt zur Versendung in Fässer zu packen.

Die Leichtigkeit der Gewinnung mag der Hauptgrund sein, weshalb man die reichen Steinsalzstätten der Insel noch nicht in Angriff genommen hat. Die italianische Bahn führt dann durch ein fast ebenes, ödes Gelände hin, und hätte man nicht immer den Ausblick auf das dunkelblaue Meer, so könnte man sich in die norddeutsche Heimat versetzt wähnen.

 

Marsala


Nähert man sich Marsala, so taucht zur Rechten die kleine Insel San Pantaleo auf, die man von der Bahn aus gut übersieht. Sie ist das Grab einer phönizisch-karthagischen Stadt. Hier lag Motye, eine jener festen Burgen am Meeresstrande, in welche die zähen Semiten sich immer wieder mit Erfolg zurückzogen, wenn sie von den Eingeborenen oder den Griechen bedrängt wurden.

Ursprünglich lag die Insel hinter einem sichelförmigen Vorsprunge des Festlandes; später brach das Meer im Norden durch und verwandelte die Halbinsel gleichfalls in eine Insel. Abgesehen von Mauer- und Thorresten hat man nur dürftige Reste von Motye gefunden: Münzen und Gefäßscherben nebst Stücken von bleiernen Wasserröhren.

Auch an Marsala fuhr ich vorüber, der weinberühmten Stadt, die an der Stelle des alten Lilybaeum liegt. Erst spät am Abend brachte mich der Zug nach Castelvetrano. Es war völlig dunkel, als ich vor das Bahnhofsgebäude trat; von der Stadt war nichts zu sehen, und ich wußte nicht, wohin ich mich zu wenden hatte. Ich folgte also den wenigen Leuten, die mit ausgestiegen waren, und fragte endlich zwei von ihnen nach einem Wirtshause. "Kommen Sie nur, wir wollen Sie schon hinbegleiten," lautete die freundliche Antwort. Als wir vor dem Albergo standen, wollte ich mich mit höflichem Danke verabschieden. "Nein", hieß es, "wir gehen mit hinein und stellen Sie dem Wirte vor."

Das geschah denn trotz meines Sträubens auch: ich wurde dem Besitzer als ein fremder Professore vorgestellt, der morgen die Ruinen von Selinunt besuchen wolle, und seiner besonderen Sorge empfohlen. Dann verabschiedeten sie sich mit den besten Wünschen. Als ich aber am folgenden Nachmittage von Selinunt zurückkehrte, sahen die beiden mich von ferne die lange Straße herabkommen, fielen meinem braven Klepper in die Zügel, begrüßten mich wie einen alten Bekannten und ließen sich erst von der glücklich bestandenen Expedition erzählen, worauf ich dann mit herzlichem Händedrucke entlassen wurde. Derartige Beweise einer ungeheuchelten Freundlichkeit kann man oft auf Sizilien erleben.

 

Selinunt


Selinunt liegt etwa 12 km südlich von Castelvetrano. "Das palmenreiche" heißt es bei Virgil. Auch jetzt giebt es noch eine Fülle von Palmen in der Gegend. Aber man darf sich nicht etwa hochragende Bäume darunter denken: es sind Zwergpalmen, deren langgestielte, immergrüne Blätter unmittelbar aus dem Boden herausschießen. Leicht wird ihnen das Fortkommen nicht gemacht, denn der Boden ist ein Kalkstein; anderswo ringen sie sich aus dem Sande hervor, der diese Stätte in gewaltiger Aufhäufung bedeckt. Das Mark und die Früchte werden gegessen, und aus den fächerförmigen Blättern macht man jene Kehrbesen, die schon Goethe bei seiner Beschreibung der Straßen Palermos erwähnt.

Der Weg von Castelvetrano nach Selinunt führt erst durch üppige Öl- und Weinpflanzungen; nähert man sich aber der Küste, so wird er sehr einsam. Nur einzelne Gebäude liegen zerstreut in der nicht überall angebauten, ebenen Landschaft, und selten begegnet man einem Menschen.

Daß es hier früher auch um die Sicherheit schlecht gestanden habe, bestätigte mir der Wirt in Castelvetrano. "Noch im Jahre 1876," erzählte er, "wurde ein wohlhabender Bürger unserer Stadt von der Bande Torretta ausgehoben und nach dem kleinen Orte Roccamena bei Corleone verschleppt. Die bewaffnete Macht umstellte den Schlupfwinkel, aber die Banditen verteidigten sich bis zur einbrechenden Nacht und schlugen sich dann durch die Kette ihrer Belagerer durch. Ihren Gefangenen hatten sie zurückgelassen, aber er hatte feierlich versprechen müssen, der Bande "in besseren Zeiten" 5.000 Lire zu bezahlen und im Falle der Gefangennahme alle Mitglieder für die Zeit der Haft mit weißer Wäsche zu versorgen."

"Und was ist aus diesem Versprechen geworden?" – "Nun;" erwiderte jener, "Signorini – so hieß der Mann – hat bezahlt, und man meinte damals, er habe sehr vernünftig gehandelt. Denn die Banditen verstanden keinen Spaß. Sie hätten ihm gelegentlich ein paar Kugeln in den Rücken gejagt."

Jetzt herrscht auch hier Sicherheit; wer sich aber durchaus bewaffnen will, der wähle ein tüchtiges Frühstück, denn bei den Ruinen von Selinunt würde er sich vergebens danach umsehen. Diese Ruinen liegen hart am Meere auf zwei Hügeln, die durch ein sumpfiges Thal getrennt sind. Da die Zerstörung eine vollständige gewesen ist, so darf man kein zweites Agrigent oder gar Pästum erwarten.

Auf dem östlichen Hügel erhoben sich nur Tempelbauten, die von der eigentlichen Stadt so getrennt standen, wie Monreale von Palermo und wie die großen römischen Basiliken außerhalb der Mauer des Aurelian. Man unterscheidet bald die Ruinen von drei Tempeln, jeder bildet für sich einen wüsten Haufen von Gebälkteilen, Kapitellen und Säulenstücken, hie und da von einer halben Säule überragt.

Und nicht einmal kanneliert sind diese Säulen alle, so jäh ist die Zerstörung über sie gekommen! Daß es englischen, deutschen und italienischen Gelehrten gelungen ist, uns die Pläne dieser Bauten bis ins einzelne wieder herzustellen, ist eine bewundernswerte Leistung, die jedem unmöglich erscheint, der zum ersten Male die wilde Trümmermasse des Apollotempels sieht. Viel malerischer ist der Heratempel gestürzt; hier liegen wenigstens an drei Seiten die Säulen so regelmäßig niedergestreckt, wie die heilige Schar auf dem Schlachtfelde von Chäronea.

Geht man die Höhe hinab und über die Brücke eines kleinen Baches — einst war hier der Hafen von Selinunt, so kommt man nach dem zweiten Hügel. Auf ihm lag die Burg der Stadt, und man sieht außer dem Eingangsthore noch ältere und neuere Teile der Ringmauer und wandelt auf dem wieder ausgegrabenen antiken Straßenpflaster zu den Ruinen von vier anderen Tempeln. Sie sind zum Teil recht unkenntlich geworden, denn die Nähe des Meeres lud zum Fortschaffen des Baumaterials ein.

Hier steht auch die bescheidene Wohnung des Leiters der Ausgrabungen, den ich leider nicht anwesend traf; dagegen sah ich an der Westseite des Hügels eine Anzahl Arbeiter in eifriger Thätigkeit. Anderswo ist der Boden mit einer grünen Pflanzendecke überzogen, und in dieser blühten heut alle Blumen des Frühlings, einen bunten Teppich über die Trümmerstätte breitend. Dazu ein großes Schweigen ringsum; nur das Meer rauschte in regelmäßigen Schlägen gegen die Küste, und aus den nahen Weizenfeldern stieg die Lerche in die Lüfte empor.

Wer könnte es unterlassen, der tapferen griechischen Bewohner zu gedenken, die für den Bruderkrieg mit Segesta so schwer gebüßt haben? Es war im Jahre 409, als ein großes karthagisches Heer nahte, um die Griechenstadt, die damals 60.000 Einwohner zählte, zu zerstören. Obgleich die Mauern in schlechter Verfassung waren, so beschloß man dennoch auszuharren, denn man rechnete bestimmt auf Hilfe von Gela, Akragas und Syrakus. Aber die Hilfe kam zu spät, nicht zum mindesten durch die Schuld der Syrakusaner. So mußten denn die Selinuntier den Verzweiflungskampf allein kämpfen.

Bald hatten die hölzernen Belagerungstürme der Punier eine Bresche in die Nordmauer gelegt, und schon am neunten Tage fiel die Stadt. Der Kampf tobte in den engen Straßen; auch Weiber und Kinder nahmen daran teil. Als alle Verteidiger erschlagen waren, ging die Stadt in Flammen auf. Später hat man wiederholt versucht, sie wieder auszubauen, aber sie blieb unbedeutend. Endlich, als die nicht mehr geregelten Wasserläufe sie ungesund machten, verließ man sie ganz. Erdbeben stürzten die Tempel um, der Dünensand des nahen Meeres deckte die Ruinen zu, und der Ort versank für viele Jahrhunderte in völlige Vergessenheit. Erst im 16. Jahrhundert wurde er gleichsam neu entdeckt, und seitdem erregen seine Riesentrümmer das gerechte Erstaunen aller Wanderer.

 

Segesta


Selinunt und Segesta! Es war eine Zeit, wo der Streit dieser Städte die ganze griechische Welt zu leidenschaftlicher Teilnahme erregte. Heute sind beide Gegner tot; in weltabgeschiedener Einsamkeit muß der Wanderer ihr Grab aufsuchen. Aber der Eindruck, den man von Segesta empfängt, ist ein ganz anderer, als der des Trümmerfeldes von Selinunt. Hier sind wir am flachen Strande des libyschen Meeres; Segesta dagegen führt uns in eine großartige Berglandschaft von so eigentümlicher Schönheit, daß niemand, der Sizilien besucht, die Wanderung hierher unterlassen sollte. Sie ist zudem durch die Verkehrsmittel der Neuzeit sehr erleichtert worden. Viermal am Tage fährt ein Postwagen in etwa zwei Stunden von der Eisenbahnstation nach dem Städtchen Calatafimi, wo man leicht Pferde und Führer nach den Ruinen Segestas findet.

Calatafimi selbst ist ein echtes Bergstädtchen, wie man sie nur in Sizilien sieht und wie sie gar nicht in unser Zeitalter hineinznpassen scheinen. Wie interessant müßte es sein, hier längere Zeit zu bleiben, die Sitten und die Sprache der Bewohner zu studieren und dadurch eine lebendige Anschauung von Kulturzuständen zu gewinnen, die lange hinter uns liegen!

Die Stadt ist auf zwei Seiten von jähen Abgründen umgeben und zieht sich um eine steile Erhebung herum, auf deren Höhe eine Burgruine liegt. Steigt man hinauf, so blickt man in eine Landschaft, die wie ein starr gewordenes bewegtes Meer erscheint. In weiter Ferne bemerkt man zwei hohe Berge; sie scheinen durch einen niedrigen Rücken verbunden zu sein, und gerade in einer Einsenkung desselben erheben sich die edlen Formen eines wohlerhaltenen griechischen Tempels. Er war heute das Ziel meiner Wanderung.

Als ich mich eben aufmachen wollte, trat ein junger Mensch an mich heran und bot mir eine ganze Hand voll Segestaner Münzen zum Kaufe. Sie waren von großer Schönheit, aber wer kein Sachverständiger auf dem Gebiete antiker Münzkunde ist, thut besser, auf ihren Ankauf zu verzichten, da Fälschungen überaus häufig vorkommen.

Um an den Fuß des Tempels zu gelangen, folgt man anfangs der schönen, nach Norden führenden Landstraße. In der Nähe des Monte Barbaro verläßt man sie und schlägt einen schmalen Reitweg ein, worauf man bald einen überraschenden Anblick hat. Man denke sich einen Kranz von mannigfach geformten, völlig kahlen Bergen, die ein Thal einschließen, in dem aber wieder mehrere kleinere Hügel liegen.

Auf einem derselben erheben sich die schimmernden Tempelsäulen, sechs in der Front, und über ihnen das kräftige dorische Gebälk. Auch hier völlige Einsamkeit, kein Laut zu hören, nur das Rauschen des Frühlingswindes vernahm man, der die Wolken zu wechselnder Beleuchtung der ernsten Landschaft herüber und hinüber trieb.

Obgleich der gelbliche Kalkstein, aus dem der Tempel erbaut ist, den Jahrhunderten wacker widerstanden hat, so hat man doch in neuerer Zeit manche Ausbesserungen vornehmen müssen, um dies kostbare Vermächtnis des Altertums kommenden Geschlechtern unversehrt zu überliefern. Im wesentlichen aber sehen wir den Tempel so, wie ihn schon das Altertum gesehen hat. Denn er ist unvollendet geblieben. Man vermißt die Kannelierung der Säulen, die Reste eines Innenbaus und die Löcher zur Aufnahme der Dachbalken; dagegen sieht man von außen noch die stehengebliebenen Griffe, an denen man die Steine des Grundbaus an ihren Bestimmungsort trug, und der Fußboden des Tempels ist nur zum Teil geebnet.

Die Bewohner von Segesta galten als Nichtgriechen, als Elymer; daß sie aber früh zu Hellenen geworden sind, zeigt dieser dorische Tempel, und eine von Herodot aufbewahrte Geschichte bestätigt es. Er erzählt uns von einem Bürger aus Kroton, Philippos mit Namen, der im Kampfe gegen Segesta seinen Tod fand.

"Er war ein olympischer Sieger und unter allen Hellenen seiner Zeit der schönste Mann. Und um seiner Schönheit willen widerfuhr ihm bei den Egestäern eine Ehre, wie sie kein anderer erfahren hat, nämlich daß sie ihm auf seinem Grabe ein Heiligtum aufrichteten als einem Heros und ihm Totenopfer darbringen." Wo wäre je ein solcher Kultus der Schönheit gefunden worden, als unter hellenischen Männern?

Und wer noch zweifeln wollte, der ersteige vom Tempelhügel aus auf verwilderten Pfaden die flache Höhe des Monte Barbaro, um hier das echt griechische Theater Segestas zu finden. Es ist ganz in den Felsen gehauen; die sechs Sitzreihen sind noch am besten erhalten, die Bühne fast ganz zerstört. Aber die Aussicht ist noch immer dieselbe. Wie der Tempel von Segesta gerade an der Stelle steht, wo er auf das Auge des Beschauers den stärksten Eindruck macht, so liegt das Theater gerade da, von wo man den schönsten Blick auf die Umgegend hat.

Tief unten breitet sich die fruchtbare Ebene aus, die von Öl und Wein trieft, gegenüber erheben sich majestätische Berge, und in einer Lücke zwischen zweien schimmert in weiter Ferne das Meer. Dort hatten die Segestaner ihren Hafen; ihre Stadt selbst lag auf dem Rücken des Monte Barbaro. Man sieht noch einige Reste von Mauern und Straßen mit ihrem Felsenpflaster; im übrigen ist die Zerstörung auch hier eine vollkommene gewesen. Man begreift das, wenn man die Greuelthaten liest, die bei der Vernichtung der Stadt durch den Tyrannen Agathokles von Syrakus geschahen.

"Von den Einwohnern ließ er die ärmeren aus der Stadt an das Ufer des Skamander führen und abschlachten; die wohlhabenderen aber ließ er auf die raffinierteste Weise martern, damit sie angeben sollten, wo ihre noch übrigen Schätze lägen. Das scheußlichste von seinen Marterwerkzeugen war eine Nachahmung des Stiers des Phalaris, mit dem Unterschiede, daß das Marterwerkzeug des Agathokles ein ehernes Gefäß war, welches die Form des menschlichen Körpers hatte, aber oben offen war, so daß die unglücklichen Opfer in ihrer Qual von dem Tyrannen beobachtet werden konnten. Viele Egestäer töteten sich selbst oder verbrannten sich mit ihren Häufern . . . Von der Stadt sollte nicht einmal der Name übrig bleiben; Agathokles nannte sie Dikäopolis und gab sie Überläufern zum Wohnsitze."

So erzählt Holm nach Diodor, und wir haben keinen Grund, den Bericht anzuzweifeln, da er mit dem sonstigen Auftreten des Tyrannen in Übereinstimmung steht. So wüteten auf dieser herrlichen Insel Griechen gegen Griechen, bis endlich die römische Weltmacht ihren sinnlosen Bruderkämpfen ein Ende machte und ganz Sizilien in eine Domäne des römischen Volkes verwandelte. Unter der harten Faust der Römer verkümmern allmählich das geistige Leben der Insel.

Eine lange Reihe von fremden Herren folgte ihnen: Byzantiner, Araber, Normannen, Deutsche, Franzosen und Spanier. Am 11. Mai 1860 schlug die Stunde der Befreiung für die so lange mißhandelten Sizilianer, denn an diesem Tage landete Garibaldi mit seinen Tausend bei Marsala und begann jenen Siegeszug, der nur mit den normannischen Heldenerinnerungen Siziliens verglichen werden kann. Wenn man von den Ruinen Segestas nach Calatafimi zurückkehrt, so erblickt man zur Rechten auf den Höhen eine Anzahl Kreuze: dort find die Gräber der Garibaldianer, die bei dem ersten Zusammenstoße mit den Truppen der Bourbonen ihr Leben gelassen haben.

Es war keine große Schlacht, die hier geschlagen wurde, nur fünfzehn fielen von Garibaldis Leuten, und etwa fünfzig wurden verwundet; aber die erlittene Niederlage entmutigte das dreifach überlegene Heer der Königlichen, und in kurzer Zeit war die Bourbonenherrschaft gestürzt. Seitdem sind 32 Jahre vergangen. Viele Aufgaben bleiben noch zu lösen; wer aber nicht mit voreingenommenem Auge sieht, muß gestehen, daß Sizilien unter dem milden und wohlwollenden Regimente der beiden ersten Könige Italiens vieles nachgeholt hat, was in zwei Jahrtausenden versäumt war.

 

Zurück in Palermo


Immer aufs neue muß man sich darüber freuen, daß so manches auf der Insel nicht mehr dem Bilde entspricht, das ältere Reisebeschreibungen von ihr entwerfen. Möchten nur alle Sizilianer dieses dankbar anerkennen und der Befestigung der neuen Verhältnisse ihre Kräfte weihen! Leider scheint dies nicht immer der Fall zu sein. Ich fuhr am Abend von Calatafimi nach Palermo zurück und machte unterwegs die Bekanntschaft eines jüngeren Mannes, der zum Bankett der Republikaner nach der Hauptstadt reiste. Er kannte, wenn auch nur oberflächlich, Gregorovius und Mommsen, und war nicht ohne eine gewisse Bildung; aber sein politischer Radikalismus klang so fanatisch, seine Meinung, daß ohne Blut keine wahre Besserung der Verhältnisse möglich sei, wurde mit so grimmiger Überzeugungstreue vorgetragen, daß man hätte glauben können, Italien und Sizilien werde von einem grausamen Tyrannen geknechtet.

Und als ich wieder in den hell erleuchteten Straßen Palermos war und die erregte Volksmenge sah, die dem eben eingetroffenen Anarchisten Cipriani ein Hoch nach dem andern brachte, als ich die Rede hörte, mit der der Gefeierte dankte, da mußte ich an jene griechischen Volksführer denken und an den Demos, der sich von ihnen zum eigenen Schaden lenken ließ. Doch das neue Regiment ist, das hoffen wir zuversichtlich, fester gefügt, als die zwischen Pöbelherrschaft, Tyrannen und Befreiern hin- und herschwankenden Demokratien des Altertums.

 

Solunto


So war ich denn wieder in Palermo. Es ist ja auf Reisen. ein ganz besonderes Glück, einen lieb gewordenen Ort zum zweiten Male sehen zu dürfen, wo man alles doppelt genießt, was man das erste Mal hat schätzen lernen. Nun blieb mir noch Zeit zu einem Ausfluge nach Solunto, Himera und Cefalù. Um nach Solunto zu gelangen, verläßt man in Santa Flavia den Zug und steigt dann den Berg hinan, auf dem die vor einigen Jahrzehnten wieder aufgedeckten Ruinen der alten Stadt liegen.

Obgleich sie mit Motye und Panormos eine der wichtigsten Burgen der Phönizier bildete, so ist doch das, was wir jetzt vor uns sehen, weder das phönizische Sela, noch das griechische Solous, sondern das römische Soluntum. Die Palermitaner nennen Solunto mit einigem Stolze das sizilianische Pompeji; aber es ist weit davon entfernt, Pompeji gleich zu kommen. Hat man in langsamem Anstiege die Höhe erreicht, so betritt man die breite, mit großen Steinen gepflasterte Hauptstraße, die über den ganzen Hügel läuft und von der die kleineren Straßen, oft nur Treppenstiegen, rechts und links ausgehen. Man erblickt hier die Grundmauern zerstörter Häuser, dort einzelne neu aufgerichtete Säulen; doch ist längst nicht alles aufgedeckt.

 

Himera


Auch wer den dürftigen Ruinen kein Interesse abzugewinnen vermag, wird es doch nicht bereuen, die Höhe erstiegen zu haben, denn die Aussicht von oben, wo man zwischen den beiden Golfen von Termini und Palermo steht, ist wahrhaft bezaubernd. Noch weniger ist von dem alten Himera geblieben. Die Stadt, bei der Gelon die punische Heeresmacht unter Hamilkar in einem ruhmvollen Kampfe vernichtete, lag an dem ihr gleichnamigen Flusse östlich vom heutigen Termini Imerese auf einem flachen Hügel. An seinem Fuße ward vom frühen Morgen bis zum Abend gefochten.

In der karthagischen Überlieferung, die in jedem Worte einen echt semitischen Geist atmet, wird Hamilkar mehr nach dem Bilde des Moses und Samuel, als nach dem des Josua und Saul dargestellt. Während der Kampf hin und her schwankt, weilt er in seinem Lager an der Küste. Er hatte Baal ein großes Opfer darzubringen, ein Opfer, das mächtiger für die Sache der Baalverehrer wirken mußte, als es sein eigener Arm im Kampfe vermocht hätte. Ein gewaltiges Feuer ward angezündet, und Stunde auf Stunde fuhr Hamilkar fort, den Göttern Karthagos seine Opfer darzubringen. An solch einem Tage genügte es nicht, den himmlischen Mächten einen kleinen Teil des Opferfleisches zu bieten, während ihre Verehrer den Rest verzehrten.

Die frommen Gaben des karthagischen Richters waren ganze Körper – waren es die von Menschen oder Tieren? waren sie lebend oder tot? – die man ohne Unterlaß in die Flammen warf. Und Stunde auf Stunde schienen die Götter seines Volkes ihm zuzulächeln; glückliche Vorbedeutungen zeigten sich unablässig den forschenden Wahrsagern. Aber Zeus auf dem Burghügel von Akragas und Athene auf der Insel von Syrakus waren an diesem Tage zu mächtig für Baal und Astarte.

In dem Augenblicke, wo Hamilkar nach so manchen Brandopfern sein Trankopfer ausgießen wollte, blickte er aus seinem Lager und sah sein Heer zerstreut von dem siegreich folgenden Hellas. Da brachte er noch ein Opfer dar, kostbarer als alle. Das Leben des karthagischen Richters gehörte Karthago: Hamilkar stürzte sich in das Feuer und ward nicht mehr gesehen. Auf Befehl des Siegers suchte man überall nach ihm, aber nirgends fand man den punischen Feldherrn lebend oder tot. Doch versagten ihm die Götter, denen er diente, seinen Lohn nicht.

Die Stadt, die ihn vermutlich ans Kreuz geschlagen hätte, wenn er mit der Nachricht von der Niederlage seines Heeres heimgekehrt wäre, konnte den Mann ehren, der in so seltener Weise sein Leben für sie gegeben hatte. In jeder Kolonie Karthagos wurden Hamilkar, dem Sohne Hannos, Denkmäler errichtet, das stolzeste von allen in Karthago. Er, der so verschwenderisch den Göttern gedient hatte, empfing selbst die Opfer eines Heros, und siebzig Jahre später brachte sein Enkel an der Stelle, wo er gestorben war, ein noch reicheres Opfer dar, um Hamilkars Tod zu rächen.

 

Cefalù


Den Endpunkt meiner Fahrt bildete Cefalù, das die Griechen Kephaloidion nannten. Der Dom dieser Stadt stammt aus der Normannenzeit und ist in jeder Hinsicht ein interessantes Gegenstück zu dem von Monreale. Unter seinen Mosaiken verdient vor allem das Bild des Erlösers die genaueste Betrachtung. Es ist ein Brustbild mit goldenem Unter- und blauem Obergewande; das schmale Gesicht ist von blonden Haaren eingefaßt, und der Ausdruck zeigt eine milde Freundlichkeit, die man sonst in diesen uralten Bildern vergebens sucht. Ja Begleitung eines jungen Burschen stieg ich dann den Berg hinauf, an dessen Fuße das moderne Cefalù liegt. Der Weg ist steil und beschwerlich, aber lohnend durch den Ausblick auf das Meer und die Berge der Madonie und die ganze wundervolle Nordküste.

Dazu steht man hier an einer geschichtlichen Grenzscheide. Bis hierher nämlich hatten im Altertum die fremden Ansiedler ihre Pflanzstädte vorgeschoben, und man übersieht von dieser Höhe nicht nur Himera und das hochgelegene Solunto, sondern auch den Mittelpunkt der phönizischen Herrschaft im Norden, Panormos mit seinen Bergen und Hafen.

Gen Osten aber blickt man über ein Land, das fast immer im Besitze der Ureinwohner, der Sikeler, blieb. Dort lag Haläsa und weiter entfernt Kale Akte, die Gründung des Sikelers Duketius. Der ganze Berg, auf dem man steht, ist mit Resten von Mauern und burgähnlichen Anlagen aus verschiedenen Jahrhunderten bedeckt. Inmitten derselben liegt ein antikes Gebäude, der sogenannte Tempel der Diana, das durch seine solide Fügung aus großen Quadern einen vorteilhaften Gegensatz zu dem Brockenbau der späteren Zeit bildet. Es wird allgemein den Sikelern. zugeschrieben, doch ist andrerseits sicher, daß die Thürpfosten in einer Weise verziert sind, die mehr an griechische, denn an barbarische Kunstübung erinnert, und daß ein aus Ziegelbau hinzugefügtes Gewölbe römischen Ursprungs ist.

Die Wanderung über Cefalù hinaus an der Nordküste fortzusetzen war mir nicht vergönnt. Noch an demselben Abende kehrte ich mit dem Dampfschiffe von Palermo nach Neapel zurück, und als ich vom Verdecke den letzten Blick auf die herrliche Bucht warf, drängte sich mir der Segenswunsch des alten arabischen Dichters auf die Lippen, der sich auch einst dieser Schönheit gefreut hatte:

"Ihr Palmen an Palermos Strand, mag immerdar mit lauen,
Mit milden Regengüssen euch des Himmels Gunst betauen!
Laß euch das Schicksal nichts von dem, was ihr ersehnt, entbehren,
Mög es, indes das Unheil schläft, euch jeden Wunsch gewähren!"

Urlaub in Sizilien

Zu Zeiten von Ernst Ziegeler konnten sich nur wenige Menschen einen Urlaub auf Sizilien leisten. Heute kommen Sie mit dem Flugzeug in zwei Stunden vom Norden Europas zu einem der drei internationalen Flughäfen Siziliens. Dort bieten sich Mietwagen, Busse und Anschlüsse der Trenitalia zur Weiterfahrt an.

Der Tourismus ist mittlerweile einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Siziliens. Die Sonnen-Insel bietet daher viele Hotels. Ferienwohnungen mit deutschsprachiger Betreuung gibt es dagegen selten. In diesen drei Urlaubsorten ist das anders:

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